Während sich Europa nach rechts bewegt, kommen in Lateinamerika Linksregierungen an die Macht, zuletzt Bernardo Arévalo in Guatemala. Was bedeutet dies für die Außen- und Entwicklungspolitik Deutschlands? Pedro Morazán analysiert die jüngsten Entwicklungen in Lateinamerika.
Linksrutsch in Lateinamerika gegen Rechtstendenzen in Europa
In Lateinamerika gibt es derzeit in Chile, Kolumbien, Mexiko, Brasilien, Honduras und auch Guatemala eine „neue Welle“ linker Präsidenten. Einige Experten sehen darin einen Gegentrend gegenüber vielen Ländern Europas, in denen rechte und rechtsradikale Parteien, wie in Italien Skandinavien oder Polen und Ungarn mehr Einfluss in Parlamenten und Regierungskoalitionen gewonnen haben. Zwei unterschiedliche politische Entwicklungen, denen jedoch die soziale Unzufriedenheit gemeinsam ist. Armut, Ungleichheit, Migrationsdruck, Inflation und die Auswirkungen der Pandemie haben unter anderem die Maßstäbe verschoben und spiegeln neue Herausforderungen wider.
Für die deutsche Außenpolitik und Entwicklungszusammenarbeit ist es allerdings wichtig zu erkennen, dass die neuen politischen Konstellationen insbesondere in Kolumbien, Chile und Brasilien enorme Möglichkeiten für die Umsetzung einer gemeinsamen Agenda der Transformation bieten. Sowohl Gustavo Petro in Kolumbien als auch Ignacio Lula da Silva in Brasilien haben bereits eigene Initiativen für den Schutz des Regenwaldes und des Amazonas eingebracht. Beide sind auch in internationalen Foren sehr aktiv und sollten als Partner für eine tiefgreifendere Agenda gewonnen werden, die über kleine einzelne Projekte hinaus geht. Nur mit umfangreichere, strukturverändernde Initiativen kann die deutsche und die Europäische Kooperation den notwendigen Respekt in der Region zurückgewinnen.
Es besteht mit diesen neuen Regierungen zudem eine größere Übereinstimmung hinsichtlich der der Notwendigkeit der Verbindung vom ökologischen Wandel mit sozialer Gerechtigkeit. Dieser zweite Aspekt ist in den meisten Länder Lateinamerikas keine Selbstverständlichkeit. Mächtige Oligarchien versuchen immer noch, ihre Privilegien mit allen Mitteln aufrecht zu erhalten. In den letzten Jahren haben westliche Demokratien, diese Eliten für die Umsetzung einer neoliberalen Agenda als Partner ausgesucht. Die Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit zeigen, dass die Wirtschaftsliberalisierung unter der Führung oligarchischer Strukturen in LAK zu einer Verschärfung sozialer Ungleichheiten geführt hat, ohne signifikante Wachstumsimpulse zu bewirken. Nun gilt es, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen und Partnerschaften mit staatlichen und nicht staatlichen Strukturen einzugehen, die bereits für die Umsetzung der Transformation vor Ort arbeiten.
Lateinamerika muss wieder stärker in den deutschen Fokus
Das Interesse der deutschen Außen- und Entwicklungspolitik in Lateinamerika ist in den letzten Jahren stark zurück gegangen. Insbesondere in der Entwicklungspolitik spielte die Region eine zweitrangige Rolle und lag zeitweise sogar hinter China sowohl hinsichtlich der finanziellen als auch der technischen Zusammenarbeit. Scheinbar hat die geographische Ferne, die kulturelle Nähe überboten. Die starke Konzentration auf die Armutsbekämpfung, die in Verbindung mit den Millenniumsentwicklungszielen (MDG) als auch mit den Zielen für nachhaltige Entwicklung (SDG) standen, haben den Blick weg von Lateinamerika und der Karibik hin zur Afrika und den Nahen Osten gelenkt . Die gegenwärtigen Krisen zwingen sowohl Deutschland als auch die Europäischen Union zu einer Kurskorrektur.
Lateinamerika und die Karibik (LAK) als Region ist ein Beispiel für das globale Klimawandel-Paradoxon: Die Regionen und Länder, die den geringsten Kohlendioxidausstoß verursachen, sind häufig am stärksten vom Klimawandel betroffen. Auf LAK entfallen weniger als 10 % der gesamten Treibhausgasemissionen, hauptsächlich aus dem Energiesektor, der Landwirtschaft und Landnutzungsänderungen. Im letzten Bericht des IPCC wird festgestellt, dass LAK, wie kaum eine andere Region der Erde von extremen Wetterereignissen aufgrund der globalen Erwärmung betroffenen sein wird (IPCC 2022).
Derzeit kann dieses Paradoxon aus einer anderen Perspektive beobachtet werden. Der Panamakanal, eine zentrale Handelsroute, ist von der Dürregefahr infolge des Klimawandels betroffen. Die Gegend um den Panamakanal erlebt derzeit ein außergewöhnlich trockenes Jahr. Das ist schlecht für die Schifffahrt, denn jedes Schiff, das ihn durchfährt, braucht Millionen Liter Wasser zum Schwimmen, je nachdem, wie viele Container es transportiert und wie schwer sie sind. Für die Weltwirtschaft ist dies ein sehr negatives Omen. Ein großer Teil der Produkte und Komponenten globaler Wertschöpfungsketten überqueren den Kanal, um ihren endgültigen Bestimmungsort zu erreichen. Dies ist nur ein Beispiel für die enorme Relevanz, die diese bisher vergessene Region für Deutschland und Europa hat.
Doch die Dürre betrifft nicht nur den Panamakanal. In Mittelamerika hat sich in den letzten 15 Jahren ein „Trockenkorridor“ gebildet, der sich von Guatemala bis in den Norden Costa Ricas erstreckt und bis nach Panama zu reichen droht. Mittelamerika ist eine Region, die kaum 0,3 % der weltweiten Emissionen verursacht. Gleichzeitig stellt es eine der am stärksten gefährdeten Regionen der Erde dar, da es Schauplatz ständiger und immer heftiger werdender Hurrikane ist, die enorme wirtschaftliche Verluste verursachen (HBS 2022).
Der Bericht des Zwischenstaatlichen Ausschusses für Klimaänderungen (IPCC) aus dem Jahr 2022 zeigt auf , dass LAK zu den Regionen der Welt gehören, die sehr stark von extremen Wetterereignissen betroffen sind, die infolge der globalen Erwärmung stattfinden. Das Abschmelzen der Gletscher in den zentralen Anden Perus mit den daraus resultierenden Auswirkungen auf die Wasserquellen, die Entstehung weniger vorhersehbarer Mikroklimata in den Anden Ecuadors und dem Kolumbianisches Amazonasgebiet, die Veränderung der landwirtschaftlichen Kreisläufe in der kleinbäuerlichen Landwirtschaft unter anderem in Mexiko und Bolivien, aber auch die Dürren in Uruguay und Argentinien sind nur einige Beispiele, die zeigen, wie groß die Herausforderungen des Kontinentes sind.
Wirtschaftliche Auswirkungen des Klimawandels in LAK
Die empirischen Belege zeigen, dass der Klimawandel erhebliche Auswirkungen auf die Volkswirtschaften der Region hat. Die langsam einsetzenden Auswirkungen des Klimawandels verändern die Produktivität und Anpassungsfähigkeit in vielen Wirtschaftssektoren, die für die meisten Länder des Subkontinents relevant sind. Nach Recherchen der UNO – Wirtschaftskommission für Lateinamerika (ECLAC) verringern die häufig eintretenden Klimaschocks das Einkommen der ärmsten 40 Prozent um mehr als 50 %. Bis 2030 könnten schätzungsweise 2,4 bis 5,8 Millionen Menschen in der Regiondurch die Auswirkungen des Klimawandels in extreme Armut getrieben werden. Klimabedingte Extremereignisse beeinträchtigen auch die Stromversorgung und die Transportsysteme. Alleine die Transportunterbrechungen infolge von Infrastrukturschäden kosten in der gesamten Region durchschnittlich mehr als 1 Prozent des BIP. In mehreren zentralamerikanischen Ländern ist der Anteil, mit bis zu 2 Prozent doppelt so hoch. Brasilianische Unternehmen verlieren durchschnittlich 22 Milliarden US-Dollar infolge von Umweltschäden (Weltbank 2022).
Allerdings sind diese Auswirkungen je nach Region und im Zeitverlauf äußerst heterogen. (ECLAC 2014). Die Auswirkungen des Klimawandels im Agrarsektor unterscheiden sich je nach Kultur, Region, Landart und Wirtschaftsakteuren. In bestimmten Teilen Argentiniens, Chiles und Uruguays könnte ein moderater Temperaturanstieg für einen bestimmten Zeitraum positive Auswirkungen auf den Agrarsektor haben. In tropischen Regionen und in Mittelamerika haben steigende Temperaturen allerdings bereits zunehmende negative Auswirkungen. Im Allgemeinen führt der Klimawandel zu einer zusätzlichen Belastung der Wasserressourcen in Argentinien, Chile, Brasilien, Ecuador, Peru, Mittelamerika und der Karibik.
Armut und Ungleichheit haben zugenommen
Knapp ein Drittel der Menschen sind in LAK von Armut und extremer Armut betroffen. (CEPAL 2022). Sowohl die Covid 19 Pandemie als auch der Klimawandel haben die bescheidenen Fortschritte, die bei der Armutsbekämpfung in 20 Jahren erreich wurden, innerhalb von 2 Jahren zu Nichte gemacht. Die Zahl der von Armut Betroffenen ist im Jahr 2021 trotz einer starken Wachstumserholung weiter gestiegen. Dies ist besonders heikel, da es auf die strukturellen Wunden hinweist, die die Pandemie hinterlassen hat und deren Heilung mehrere Jahre dauern kann (Rosales 2022).
Ebenso muss erneut auf die erheblichen Ungleichheiten in Lateinamerika hingewiesen werden. Während der weit verbreitete Rückgang der Einkommensungleichheit zu Beginn der 2000er Jahre großer Anerkennung genoss, stagnierte dieser Trend in den 2010er Jahren und begann sich in einigen Ländern bereits vor Ausbruch der Pandemie umzukehren. Der Rückgang der Ungleichheit in den frühen 2000er Jahren kam infolge mehrerer Faktoren zu Stande. Die wichtigsten davon waren das Wirtschaftswachstum, Fortschritte im Bildungsbereich und eine erfolgreiche Einkommenssteigerung durch Geldtransfers. In einigen Ländern wie Argentinien und Uruguay spielten auch Gewerkschaften eine wichtige Rolle bei der Durchsetzung von Lohnsteigerungen. Auch in anderen Ländern wie Brasilien war eine Erhöhung des Mindestlohns wichtig. Trotz dieser Fortschritte weist LAK eine höhere Einkommensungleichheit aus als all diejenigen in anderen Regionen mit einem ähnlichen wirtschaftlichen Entwicklungsstand (UNDP 2021).
Die Wiederentdeckung Lateinamerikas durch die Bundesregierung
Unter dem Titel „Perspektiven mit Lateinamerika und der Karibik“ hat die Bundesregierung im Juni 2023 eine neue Entwicklungspoltische Strategie für die 32 Länder LAKs entworfen (BMZ 2023). Unter dem Motto „Gemeinsam für ökologischen Wandel und soziale Gerechtigkeit“ werden Ziele und Instrumente definiert, um gemeinsame Herausforderungen zu meistern. Der Klimawandel spielt in der Strategie eine zentrale Rolle. In Vergleich zu der Strategie der Vorgängerregierung wird auch der sozialen Frage eine größere Bedeutung beigemessen.
Die regionale Verteilung der Prioritäten in Form von sogenannten Partnerländern bleibt allerdings problematisch. In der Sub Region Mittelamerikas sucht man vergebens nach „Anker“- oder Partnerländer der deutschen Entwicklungszusammenarbeit. Dabei sind die Herausforderungen im Bezug auf Biodiversität und Armutsbekämpfung in diesen Ländern immer noch sehr groß.
Thematisch wird das Thema Auslandsverschuldung erwähnt. Das ist ein Zeichen dafür, das dieses Thema auf der Agenda steht. Allerdings werden hier keine konkrete Schritte und Instrumente definiert, um den Beitrag der Bundesregierung bei der Umsetzung bereits bestehende Entschuldungsinitiativen zu benennen.
Ähnlich diffus erscheint die Strategie im Hinblick auf die Umsetzung bereits eingegangenen Verpflichtungen bei der Finanzierung von Klima-Anpassungsmaßnahmen. Hierzu gehören nicht zuletzt die eigenen Vorschläge für die Finanzierung eines Fonds für klimabedingte Verluste und Schäden (Loss and Damage), der bei der COP27 in Ägypten von Deutschland unterstützt wurde. Hier hätte die Strategie bereits in der Formulierung ein Zeichen für die Region setzen können. Statdessen werden bereits bestehende kleine Initiativen hervorgehoben, die zwar richtig sind, aber angesichts der dramatischen Lage auf dem Kontinent eher ein Tropfen auf dem heißen Stein sind .
Literatur
BMZ (2023). Perspektiven mit Lateinamerika und der Karibik: Gemeinsam für ökologischen Wandel und soziale Gerechtigkeit.
IPCC (2022): WGII Sixth Assessment Report. Chapter 12: Central and South America. Disponible en: https://report.ipcc.ch/ar6/wg2/IPCC_AR6_WGII_FullReport.pdf
HBS (2019). A un alto costo Generación de energía en América Latina, Fundación Heinrich Böll
UNDP (2021). Trapped: High Inequality and low Growth in Latin America and the Caribbean.